Prof. Dr. Arnulf Schlüter (1922-2011)
Arnulf Schlüter verstarb am 24. Juni 2011 im Alter von 88 Jahren. Er war zusammen mit Hannes Alfvén, Tom Cowling und Lyman Spitzer, Jr. einer der Pioniere der Plasmaphysik und hat sich gleichermaßen mit Fragen der Astrophysik wie dem Problem der kontrollierten Kernfusion auseinandergesetzt. Mit ihm hat Deutschland einen seiner bedeutenden Forscher der Nachkriegszeit verloren. Seit 1951 war Schlüter auch Mitglied der Astronomischen Gesellschaft.
Seine Promotion im Jahr 1947 bei Walter Weizel in Bonn beruhte auf einer Arbeit über „Das statistische Gleichgewicht zwischen Zuständen verschiedener Energie: Boltzmannstatistik und Thermodynamik“. Das Interesse für klassische Statistische Gesamtheiten hat ihn die ganzen Jahre begleitet. 1948 wurde er an Ludwig Biermanns Abteilung Astrophysik berufen, die ein Teil des Göttinger Max-Planck-Instituts für Physik unter der Leitung von Werner Heisenberg war. Obgleich er sich damals auch mit so verschiedenen Themen, wie atomaren Oszillatorstärken und numerischen Rechenmaschinen beschäftigte, war es wohl das Interesse Biermanns an der Physik der Sonne und des interstellaren Mediums, das Schlüter bald dazu führte, die dabei so wichtige Plasmaphysik systematisch zu begründen. Seine Zwei-Flüssigkeitstheorie des Plasmas aus positiven Ionen und Elektronen kann man als eine Weiterentwicklung der idealen Magnetohydrodynamik Alfvéns verstehen. Sie geht jedoch weit darüber hinaus, indem sie der Bewegungsgleichung des Gesamtsystems ein dynamisch verallgemeinertes Ohm’sches Gesetz der Relativbewegung zwischen den Elektronen und den schweren Ionen an die Seite stellt. Damit waren so unterschiedliche Phänomene wie die hochfrequenten Plasmaschwingungen und die Alfvénschen magnetohydrodynamischen Wellen bei sehr niedrigen Frequenzen gleichermaßen beschreibbar. Schlüter hat diese Theorie anschließend auch auf Plasmen mit Neutralgas ausgedehnt.
Es waren in den Fünfziger Jahren nicht nur die grundsätzlichen Fragen der Plasmaphysik, die ihn beschäftigten, sondern – in Zusammenarbeit vornehmlich mit Ludwig Biermann, Reimar Lüst und Rudolf Kippenhahn – zugleich die kosmische Elektrodynamik, die Physik der Sonne, des interstellaren Mediums und der Kosmischen Strahlung. Dabei spielten die Eigenschaften des magnetisierten Plasmas, wie magnetohydrodynamische Gleichgewichte, kraftfreie Magnetfelder, aber auch allgemeine Magneto-Fluid Dynamik, wie Instabilitäten, eine bedeutende Rolle - Konzepte, deren Entwicklung Hand in Hand gingen mit ihrer astrophysikalischen Anwendung. So haben etwa Lüst und Schlüter 1955 den Drehimpulstransport durch Magnetfelder und die Abbremsung rotierender Sterne untersucht. Die vergleichsweise schnelle Rotation junger Sterne im Gegensatz zu älteren Objekten wie der Sonne findet damit ihre natürliche Erklärung. Während Lüst und Schlüter die Wechselwirkung mit unabhängig existierender zirkumstellarer Materie in den Vordergrund stellten, haben schließlich 1967 Weber und Davis die magnetische Drehimpulsübertragung auf den Parkerschen Sonnenwind als Alternative betont. Eine spezifische Ausformung von Gleichgewichten zwischen schwerer Materie und magnetischen Kräften stellte die Theorie solarer Filamente durch Kippenhahn und Schlüter 1957 dar. Sie zeigten, dass sich in den horizontalen Bereichen solarer Magnetfeldkonfigurationen Massenkondensationen aus der Korona stabil ansammeln können, deren Lebensdauer, Dichte und räumliche Konfiguration denen der bekannten Filamente entsprechen. In ihren Überlegungen zur Dynamik von HII-Regionen schlossen Biermann und Schlüter 1954, dass diese eine wesentliche Quelle für die kinetische Energie des unregelmäßigen Bewegungszustands des interstellaren Mediums darstellen sollten. Die interstellaren Magnetfelder sollten auf Grund der interstellaren Turbulenz ihre typische Größe von einigen Mikrogauss bekommen haben (Schlüter und Biermann 1950). Die Magnetfeldstärke wurde aus der Tatsache hergeleitet, dass nur die Maxwellsche Spannungen derartiger Felder dem Druck der Kosmischen Strahlung das Gleichgewicht halten könnten. Andernfalls würde das Feld „zunächst am Rande der Galaxis einfach weggeschwemmt.“
Im Laufe der späten fünfziger Jahre, noch in Göttingen, begann sich Schlüter als Leiter der Arbeitsgruppe Plasmaphysik der kontrollierten Kernfusion zuzuwenden. Dem galten grundsätzliche Arbeiten zum magnetischen Einschluss von Plasmen, zur Stabilität solcher Konfigurationen, und zur Heizung eines Fusionsplasmas. Im Jahre 1958 wurde Schlüter zum ordentlichen Professor an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München berufen. 1959 wurde er zugleich zum Wissenschaftlichen Mitglied des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik berufen, das unter diesem neuen Namen nunmehr nach München verlegt worden war. Er war ein akademischer Lehrer, dessen Vorlesungen von intellektuellem Elan sprühten. Die Begeisterung der Studenten wurde lediglich dadurch etwas gedämpft, dass Schlüter im Rahmen der Übungen erstmals Klausuren einführte. Insgesamt jedoch wurde die Neuerung als nicht unfair empfunden und so auch akzeptiert. Sie entsprach Schlüters ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Als Betreuer von Diplomanden und Doktoranden war er anspruchsvoll und hatte zugleich Verständnis für die menschlichen Nöte seiner Schüler. Die Position als Ordinarius behielt er bis zum Jahr 1973.
Im Jahre 1960 wurde Schlüter Mitglied der wissenschaftlichen Leitung und Direktor am neu gegründeten Instituts für Plasmaphysik - dem späteren Max-Planck-Institut für Plasmaphysik – in Garching, und 1965 dessen wissenschaftlicher Direktor. In dieser Zeit begannen in Garching die großen Experimente zur kontrollierten Kernfusion, die mit den Konzepten des Stellarators und des Tokamak verknüpft sind. Obwohl sich Schlüter zu dieser Zeit auch intensiv mit seiner Idee eines neuen Elektronenbeschleunigers beschäftigte, wurde doch forschungspolitisch eine Konzentration auf diese Fusionsexperimente notwendig. Schlüter leitete danach bis 1990, dem Jahr seiner Emeritierung, die Abteilung Stellaratortheorie, in der er eine große Zahl von neuen Ideen erarbeitete, die heute in den Großanlagen des MPI für Plasmaphysik verwirklicht sind.
Es ist hier nicht der Ort, die vielen Ehrungen und Auszeichnungen aufzuzählen, die Schlüter als Wissenschaftler und Forschungsmanager zuteil wurden. Als ein Beispiel sei erwähnt, dass er als Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1986 bis 1991 auch deren Präsident war.
Wie wenige andere war Arnulf Schlüter auf beiden Seiten der Wissenschaften tätig. Es war zum einen ein Physiker, der Grundlagenforschung sowohl in der reinen Theorie wie in der Anwendung auf die Astrophysik betrieb. Zum anderen wendete er sich mit voller Energie und sehr praktisch der Fusionsforschung zu, wo es ihm auf die richtigen Konzepte ankam, für die er auch nachhaltig stritt. Der Astronomie hat Schlüter wichtige Impulse in der Plasma-Astrophysik gegeben. Nach fünfzig Jahren Weltraumforschung mit in situ-Instrumenten und einer unerhörten Entwicklung der beobachtenden Astronomie im Allgemeinen ist deutlich, wie sehr seine strenge Begründung der Plasmaphysik die kosmische Elektrodynamik befördert hat. Sie hat heute nicht zuletzt dank ihm eine sichere Grundlage.